In unserem Kloster hängt ein Engel. Er hat nur einen Flügel, der andere ist irgendwann im Laufe der Jahrhunderte abhandengekommen.
Lange habe ich gar nicht bemerkt, dass ihm ein Flügel fehlt. Ist es denn noch ein Engel – mit nur einem Flügel?
Ist nicht ein halbes Flügelpaar wie ein halbherziges Handeln, wie ein Zuhören mit halbem Ohr, wie ein Sehen mit nur einem Auge, also halbblind, ein einseitiger Blick, sich mit halben Wahrheiten zufriedengeben?
Die Adventszeit ermahnt uns, achtsamer zu werden, genauer hinzuhören, das Ganze in den Blick zu nehmen? Sie ist eine Zeit des Erwartens, des Wartens auf das Kommen des Herrn.
Wenn ich lange Zeit nicht einmal bemerkt habe, dass „unser“ Engel nur (noch) einen Flügel hat, wie achtsam bin ich dann auf das, was Gott in seiner Menschwerdung uns zugesprochen hat: Seine Gegenwart mitten unter uns, und das mit ganzem Herzen wahrnehmen, mit offenen Ohren und voller Aufmerksamkeit.
Der Prophet Jesaja weist uns in der Liturgie des Advents immer wieder auf dieses Warten und Erwarten hin:
„Volk Gottes, mach dich bereit. Höre auf ihn, und dein Herz wird sich freuen.“
(Jes. 30,30)
Engel sind, so sagt die Schrift, Boten Gottes. Das ist auch unsere Aufgabe, auf die wir uns in der Adventszeit neu ausrichten sollen.
Habe auch ich nur einen Flügel und merke es nicht?
Vielleicht sollte uns die Adventszeit helfen, unsere Halbherzigkeit zu überwinden, umzuwandeln in ein beherztes Tun, in ein aufmerksames Zuhören und das Ganze im Blick zu behalten. Dann machen wir uns für seine Ankunft bereit – und unser verlorengegangener Flügel wächst wieder nach!
„Volk Gottes, mach dich bereit. Höre auf ihn, und dein Herz wird sich freuen!“